Ich bin traurig und bestürzt darüber, dass es gerade aktuell immer wieder für Kinder mit FASD zu wenig gute und sichere Orte zu geben scheint. Kinder und Jugendliche mit FASD lassen sich nicht gut vermitteln im Rahmen der Jugendhilfe und auch Schule kann noch viel zu selten passende Konzepte bieten.
Es gibt viele Eigenschaften, die Kindern und Jugendlichen mit FASD zugeschrieben werden: aggressiv, kognitiv eingeschränkt, manipulativ, zu laut oder zu leise uvm. Es ist richtig, dass die strukturelle, hirnorganische Schädigung durch die intrauterine Alkoholexposition verschiedenste Auffälligkeiten erzeugt und somit Störungen der Entwicklung, der Kognition und des Verhaltens, sowie Einschränkungen in Teilleistungen und somit globale Einschränkungen im Alltag bewirken. Die frühen Lebensumstände unserer Kinder und Jugendlichen, die in Pflegefamilien leben, konnten sicher keinen positiven Einfluss auf die Entwicklung nehmen. Im Gegenteil. Verwahrlosung, Misshandlungen, sexueller Missbrauch und andere Faktoren haben dazu geführt, dass die Kinder in Obhut genommen wurden und einen neuen Lebensmittelpunkt brauchten.
Erfreulicherweise verbreitet sich das Wissen rund um FASD stetig weiter und multidisziplinär aus. Trotzdem wird immer wieder deutlich, wie groß die Angst vor Kindern und Jugendlichen mit FASD ist. Das zeigt sich im Bereich der Jugendhilfe und auch gerade im System Schule am allerdeutlichsten.
Herausforderndes Verhalten findet noch zu oft keine entsprechenden, der neurodivergenten Ausgangslage angepassten Antworten. Wir sind noch immer zu starr und unkreativ in unseren Handlungsstrategien und Konzepten. Gleichzeitig laufen wir Gefahr, durch die Hilflosigkeit, die sich hieraus ergibt, die Kinder „abzuschreiben“, wirklich zu stigmatisieren und ihnen miese „Verläufe“ schon zu prophezeien. Gut fühlt sich niemand dabei, eher überfordert und wirkungslos. Das ist verständlich und dennoch für die vielen Kinder und Jugendlichen mit FASD ein absolut haltloser Zustand.
Wie können wir es schaffen, FASD den Schrecken zu nehmen? Wie erreichen wir es, die Störungen klar zu benennen und gleichzeitig Chancen und Möglichkeiten zu erkennen bzw. zu schaffen. Kinder und Jugendliche mit FASD sind einzigartig wie alle Kinder, mit vielen Stärken und Ressourcen, die es zu entdecken, zu fördern und zu erhalten gilt. An welcher Stelle muss der Stein ins Rollen gebracht werden? Meine große Überzeugung ist, dass zuallererst die Akzeptanz in Bezug auf die Behinderung über allem stehen muss. Noch immer fehlt ein systemübergreifender Konsens über die Verortung der Behinderung! Sei es die fehlende Listung in der Versorgungsmedizinischen Verordnung (VersMedV) noch im Kontext Schule im Bereich der Förderschwerpunkte und vor allem einer entsprechenden Haltung. Hier spielt sicher der Föderalismus eine große Rolle und die Förderbereiche sind recht unterschiedlich. Dürfte ich es mir wünschen, gäbe es einen Förderschwerpunkt „Neurodivergent“. Solange unser Schulsystem ausschließend und sanktionierend vorgeht, werden wir den Kindern und Jugendlichen mit FASD sicher nicht gerecht; den Lehrerinnen und Lehrern übrigens ebenso wenig. Wer hirnorganisch bedingt aus Fehlern nicht bzw. nur sehr schwer lernen kann, wird gewisse gesellschaftliche Regeln nicht ohne Unterstützung einhalten und Lehrinhalte entsprechend aufbauen, übertragen und nutzen können.
Solange die Anforderungen der Menschen mit FASD lediglich in gewissen Teilbereichen des Lebens, hier meistens innerhalb der Familie, angepasst werden, wird das für einen Großteil der Menschen mit FASD nicht ausreichen und sie erleben immer wieder Rückschläge in ihrer Entwicklung und ihren Bezugssystemen.
Wir müssen es schaffen zu verstehen, zu vermitteln und vor allem zu etablieren, dass unsere Reaktionen, unsere Erwartungen und Anforderungen, gesellschaftlich wie im Kleinen, einen großen Einfluss auf das Verhalten, die Beziehungen und Möglichkeiten von Menschen mit FASD haben. Ohne diese Perspektive wird es nicht gelingen, das Schreckensgespenst abzuschütteln und den dringend nötigen, neurobehavioralen (verhaltensneurologisch/psychisch) Blick auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zu lenken.
Die Menschen mit FASD sind auf unsere Flexibilität, unsere Gelassenheit und unsere Annahme des guten Grundes für unangepasstes und herausforderndes Verhalten angewiesen. Wir müssen verstehen und akzeptieren, dass jede Missachtung dieser Akzeptanz, vor allem auch der mannigfaltigen Begleiterkrankungen (Komorbiditäten), eine direkte Abwärtsspirale für die Menschen mit FASD bedeutet, die wiederum weitere, sekundäre Schäden nach sich ziehen. Heruntergebrochen heißt das nichts anderes als, dass wir grundsätzlich in Vorleistung treten sollten. Wir müssen machen, dass sie es machen können.
Wir sollten uns darauf einigen, dass
- FASD die Behinderung der Menschen ist, nicht deren Persönlichkeit.
- FASD Konsens im guten interdisziplinären Helfernetzwerk braucht.
- Bezugspersonen durch Verurteilungen und Vorurteile Unrecht widerfährt.
- FASD in den meisten Fällen 24/7 Präsenz der Bezugspersonen bedeutet und das entsprechend honoriert und entlastet werden MUSS.
- FASD in vielen Bereichen unsichtbar ist.
- FASD viel schafft, wenn die „Piste frei ist“.
- FASD fast immer ein gewisses Maß an Hilfe benötigt.
- FASD nicht heilbar, aber durchaus lebbar ist.
- FASD eine tückische Behinderung ist, unter der die von ihr betroffenen Kinder und Jugendlichen stark leiden können (Selbstbild, starke und vielfältige Ängste, Depression, keine Freunde usw.).
- FASD Menschen braucht, die die neurobehaviorale Perspektive einnehmen wollen und können!
- FASD bei fach- und sachgerechter Begleitung natürlich Geld kostet: bei Missachtung des Bedarfs aber noch viel teurer wird.
- FASD ist individuell! Jeder Mensch ist einzigartig.
- FASD ohne Diagnose die Menschen nicht ankommen lässt und ihnen die Auseinandersetzung mit ihrer Behinderung vorenthält! Ohne Diagnose führen die vielen Komorbiditäten zu nicht passenden Therapien und Behandlungen!
- FASD nicht zu diagnostizieren KEINEN Vorteil bringt!
Die Kinder und Jugendlichen mit FASD sind auf unseren Schutz und unsere Akzeptanz angewiesen. Sie sind wertvoll und haben viel zu geben und beizutragen. Sie sind wie alle Kinder dieser Welt mit einem Rucksack unterwegs, der neben Problemen ebenso viele Geschenke bereithält.
Ich kenne viele Menschen mit FASD: Kinder, Jugendliche und Erwachsene! Einige von ihnen sind gut integriert und glücklich, viel zu viele von ihnen sind einsam und finden ihren Platz (noch) nicht, ein paar haben sich und ihr Leben aufgegeben! Doch eins konnten sie alle sehr gut: mitteilen, was sie brauchen und was nicht! Hören wir doch besser hin; vor allem zwischen den Zeilen.
Autorin: Nevim Krüger
Beisitzerin im PFAD Bundesvorstand,
Vorsitzende des PFAD Landesverbandes Niedersachsen,
Pflege- und Adoptivmutter
Erstveröffentlichung des Artikels in der Zeitschrift ‘Mittendrin – 1/2024’