Manchmal habe ich den Eindruck, dass Kinder mit einer sichtbaren Behinderung leichter und selbstverständlicher Hilfen bekommen und ihre Pflege- und Adoptiveltern durch die Gesellschaft eine größere Akzeptanz und Anerkennung ihrer täglichen Pflege erfahren.

Pflegefamilien mit Kindern, die andere – eben nicht gleich ersichtliche – Einschränkungen haben, müssen es manchmal aushalten, durch die besonderen Verhaltensweisen ihrer Kinder in der Öffentlichkeit aufzufallen und schief angesehen zu werden. Allzu schnell werden Pflegeeltern dann darauf reduziert, dass sie mit ihrer Tätigkeit ja nur Geld verdienen wollen. Nun ist es aber gerade auch in „normalen“ Pflegefamilien leider selten so, dass die ihnen anvertrauten Kinder ohne jede Beeinträchtigung sind.

Viele Pflegekinder bringen aufgrund ihrer Vorgeschichte unsichtbare Behinderungen mit.

Beeinträchtigungen wie FASD – durch den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft – oder Traumatisierungen zum Beispiel aufgrund von Vernachlässigung, Mangelversorgung oder Gewalterfahrungen erschweren die kindliche Entwicklung.

Bei FASD findet glücklicherweise gerade ein Umbruchprozess statt. So lässt sich hoffen, dass die vorgeburtliche Schädigung durch Alkohol in absehbarer Zeit als lebenslange Behinderung anerkannt wird. Denn, auch wenn es immer wieder betroffene Kinder gibt, die durchaus einen durchschnittlichen oder sogar überdurchschnittlichen IQ haben können, sind auch diese aufgrund ihrer „störenden“ oder unakzeptierten Verhaltensweisen stark beeinträchtigt. Diese Kinder sind oft zu vertrauensselig und anhänglich, wodurch sie im Leben leicht ausgenutzt und zu Dingen genötigt werden können, die sie nicht abschätzen können.

Bei 30 Prozent der Kinder mit FASD finden sich Störungen, die der Autismusspektrumstörung sehr ähnlich sind. Mitunter sind die Hirnschädigungen so ausgeprägt, dass die Betroffenen sich einfachste Dinge nicht merken können. Dies bereitet im Alltag große Schwierigkeiten, die viel Wissen, Verständnis und Geduld der Pflegeeltern erfordern, und oft eine Sonderbeschulung in Förderschulen notwendig machen.

Auch das frühkindliche Trauma kann unterschiedliche Auswirkungen haben.

Diese können die Kinder im Aufbau von Beziehungen oder Bindungen so nachhaltig beeinträchtigen, dass sie hierzu kaum in der Lage sind. Sie können Verhalten von anderen falsch interpretieren oder die Signale, die sie senden, werden falsch verstanden.

Vergleicht man die Gruppen von Kindern mit sichtbaren Behinderungen mit denen der nicht sichtbaren Behinderungen, so fällt schnell auf, dass auch der Alltag mit Kindern ohne sichtbare Behinderungen von vielen Herausforderungen geprägt sein kann.

Eingliederungshilfe (SGB IX) oder Kinder- und Jugendhilfe ( SGB VIII)?

Während Kinder mit sichtbaren Behinderungen häufig in der Eingliederungshilfe (SGB IX) eingegliedert sind und so besseren Zugang zu Hilfsangeboten und Unterstützungsleistungen haben, fallen Kinder ohne sichtbare Behinderung in die Kinder- und Jugendhilfe ( SGB VIII) und werden erst einmal als „normal“ und/oder „unauffällig“ eingestuft.

Um hier ähnliche Leistungen wie aus der Eingliederungshilfe zu erhalten, bedarf es Diagnosen und die Kompetenz und das Wohlwollen der fallführenden Fachkraft und deren Kolleg*innen, diese anzuerkennen. Die Kolleg*innen die mitbestimmen, weil solche Entscheidungen im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden, kennen das Kind und seine Probleme in der Regel nicht bzw. nur über die Schilderungen der fallführenden Kolleg*in. Das führt häufig dazu, dass Hilfen nicht als notwendig wahrgenommen und Anträge der Pflegeeltern abgelehnt werden.

Im Klartext heißt das dann: Ein Kind im Rollstuhl bekommt für die Fahrt zu seiner Einrichtung z. B. einen Fahrdienst, während das Kind, das den gleichen weiten Weg zu seiner Sprachheileinrichtung hat, keinen Fahrdienst bekommt, da die Behinderung nicht sichtbar – und somit für die Kostenübernahme – nicht ausreichend ist.

Es kann doch aber nicht im Interesse der Gesellschaft sein, wenn gerade bei der vulnerablen Gruppe der Pflegekinder solch große Unterschiede gemacht werden.

Hier sehe ich dringenden Handlungsbedarf

Auch Kinder mit unsichtbaren Behinderungen müssen als beeinträchtigte Personen wahrgenommen und entsprechend unterstützt werden.

Die Fachkräfte sollten auf die Einschätzungen der Pflegeeltern vertrauen, die mit dem Kind leben und somit die Experten für ihr Kind sind. Sie beantragen keinen Hilfen, die sie nicht benötigen. Denn es geht darum, dass alle Kinder die für sie notwendigen Hilfen und Unterstützungen bekommen. Ihre Pflegeeltern sollten nicht erst darum kämpfen müssen und das Gefühl bekommen, dass ihre anspruchsvolle Erziehungsleistung nicht anerkannt wird und sie mit ihrem Einsatz für das Kind auf Dauer überlastet werden.

Christiane Kehl, Beisitzerin

Christiane Kehl

Autorin: Christiane Kehl

Beisitzerin im PFAD Bundesvorstand,
Vorsitzende des PFAD Landesverbandes Mecklenburg-Vorpommern,
Pflegemutter