Dauerpflege – Als Familie zusammenwachsen
Ein Telefonanruf der Sozialpädagogin kündigte das Eintreffen meines ersten Pflegekindes an. Am nächsten Tag schon wurde er gebracht, ein eineinhalb jähriger Junge. Eine Familie in freudiger Erwartung. Mit einer Tüte voll Bekleidung, den Teddy im Arm und seinem Kinderbett zog Peter bei uns ein. Die Sozialarbeiterin berichtete einiges vom Kind, während sich die Pflegegeschwister, sieben und fünf Jahre alt, neugierig mit dem Familienzuwachs beschäftigten. Bauklötze durch die Gegend werfen konnte er schon ganz gut, und darin war er sich mit den Pflegegeschwistern schon einig, die ihn mit dem Nachschub der Wurfgeschosse versorgten. Ehe es ausartete, verabschiedete sich die Sozialarbeiterin und wir waren alleine.
Er blieb ohne Bedenken bei uns, es floss keine Träne. Bis zum Abend spielten wir miteinander; mit dem Abendessen war er zufrieden. Zum anschließenden Schlafengehen vertraute er sich mir an, ließ sich bereitwillig zu Bett bringen und schlief alsbald ein. So vergingen die nächsten Tage, wir lernten ihn besser kennen und konnten uns auf seine Bedürfnisse einstellen. Insgesamt ein positiver Start und ich empfand mich als tolle Pflegemutter.
Aufgeschlossen ging er auf alle Nachbarn und Bekannten zu, auch vor wildfremden Leuten hatte er keine Scheu. Von Distanzlosigkeit als Merkmal einer Bindungsstörung hatte ich bis dahin noch nichts gehört. Welchen Einfluss es auf den pädagogischen Alltag hat, war mir noch nicht klar.
Pflegeeltern brauchen eine gute Vorbereitung, die sie über die vielfältigen Themenbereiche, die aus der Pflegekinderforschung bekannt sind, aufklären, z. B. Bindungsverhalten, frühe Störungen, Traumatisierungen, Gewalterfahrungen, Vernachlässigung. Und auch Aufklärung über Problemursachen in der Herkunftsfamilie, zum Beispiel psychisch kranke Eltern, suchtkranke Eltern. Aufklärung heißt aber nicht nur Vermittlung von Wissen über Krankheitsbilder, sondern vor allem Informationen, wie sich diese auf das Zusammenleben in einer Familie auswirken.
Wenig später stand der erste Besuch beim Kinderarzt an. Er fragte mich, ob ich über das Fetale Alkoholsyndrom informiert bin und eröffnete mir, dass mein Pflegekind alle Merkmale dafür aufweist. Ich wusste nichts darüber. Er beschrieb mir einige Auswirkungen und ich ging beunruhigt nach Hause. Damit stand im Raum, dass die leibliche Mutter alkoholkrank ist. Auch eine neue Information.
Pflegeeltern brauchen eine umfassende Aufklärung über ihr Pflegekind. Dazu gehören Informationen über den Gesundheitszustand, über die bisherigen Lebensumstände, festgestellte Defizite etc. und deren mögliche Auswirkungen auf den Alltag mit dem Kind.
Durch das Zusammenleben mit dem Kind wurde deutlich, dass meine Erfahrungen, die ich mit den eigenen zwei Kindern gemacht hatte, nicht unbedingt auf den Pflegesohn zu übertragen waren. Es braucht viel Sicherheit und Verlässlichkeit, damit sich Bindung entwickeln kann. Die Distanzlosigkeit macht einem zu schaffen. Es kränkte mich zu erleben, dass sich das Kind auf jedem Schoß wohlfühlte, andere herzte und küsste und kein Ende fand bei Besuchen bei Nachbarskindern. Viel Geduld und Ausdauer waren nötig, um dies abzubauen. Ich fühlte mich nicht mehr als tolle Pflegemutter.
Schon bald stieß ich in der Tageszeitung auf eine Einladung zu einem Gesprächsabend einer Pflegeelterngruppe. Neugierig nahm ich daran teil und war überrascht, wie wohl ich mich in der Runde mit anderen Pflegeeltern fühlte. Wir berichteten einander von unseren Kindern und tauschten Wissen und Erfahrungen aus.
Pflegeeltern profitieren vom Austausch mit anderen Pflege- und Adoptivfamilien. Informationen, Wissenstransfer, Tipps für den pädagogischen Alltag, Anregungen zum Umgang mit dem Belastungsstress in der Paarbeziehung und der Familie und vieles mehr bieten die Ortsgruppen. Bei gemeinsamen Festen und Freizeitaktivitäten können sich die Kinder untereinander kennen lernen und erleben, dass auch andere Kinder in besonderen Familienkonstellationen leben.
Die ersten Besuchskontakte wurden von mir telefonisch mit der Mutter vereinbart. Sie holte Peter ein paarmal für einige Stunden ab und dann für ein ganzes Wochenende. Am Sonntagnachmittag brachte sie ihn nicht wie vereinbart zurück und versetzte uns in helle Aufregung. Bei der uns bekannten Adresse wohnte sie nicht mehr. Über die Polizei konnten wir die aktuelle Anschrift ermitteln und ihn dort abholen. Sie gab ihn bereitwillig heraus. Sie war alkoholisiert und überfordert.
Pflegeeltern brauchen mit dem Jugendamt erarbeitete Absprachen zum Umgang. Verbindliche Regelungen zum zeitlichen Umfang, dem Intervall und den Ort der Kontakte, sowie darüber, welche Personen anwesend sein sollen und was passiert, wenn die Regelungen nicht eingehalten werden (können) etc.
Nach diesem Wochenende reagierte der Junge mit nächtlichen Alpträumen, die uns lange begleitet haben. Weitere Besuchskontakte mit der Mutter gab es nicht. Die Oma, bei der der ältere Bruder unseres Pflegekindes lebte, hielt mit gelegentlichen Besuchen den Kontakt zur Herkunftsfamilie aufrecht.
Einige Jahre später kündigte uns seine Oma einen gemeinsamen Besuch mit ihrer Tochter an. Sie habe ihre Alkoholsucht überwunden und sei seit einiger Zeit trocken. Gemeinsam holten sie ihn für einige Stunden ab. Eine neue Situation für das Kind. Das erste Mal wieder allein mit Mutter und Oma. Wird es ihm guttun? Es tat ihm gut. Die Oma und seinen Bruder kannte er und sie dehnten es nicht zu lange aus. Sie wiederholten in kurzen Abständen ihre Besuche. Wir waren in den zurückliegenden Jahren als Familie gut und ungestört zusammengewachsen. Zwei Mütter waren für Peter und für uns als Familie neu und gewöhnungsbedürftig. Wir mussten lernen, der Mutter ein Stück vom Elterngefühl abzugeben. Ihr den Kontakt, den sie für den kurzen Umgangs-Zeitraum freundlich und aufmerksam gestaltete, zu gönnen. Viele Gespräche in der Pflegeelterngruppe haben uns dabei unterstützt. Trotzdem machten wir uns Sorgen, wo das hinführen soll. Ich nahm Kontakt mit dem Jugendamt auf, um zu klären, welches Ziel die leibliche Mutter mit den Besuchskontakten verfolgt. Der Sozialarbeiter beruhigte mich, dass sie sicher nicht das Kind zurück haben könne, aber der Mutter will er das nicht sagen. Mit dieser Unklarheit wollte ich mich nicht zufrieden geben. Ich wandte mich an die Erziehungsberatungsstelle mit der Bitte, ein Gespräch zwischen der Mutter und mir zu begleiten. Ich wollte eine Regelung für die Häufigkeit der Besuchskontakte und eine klare Auskunft über das Ziel der Kontakte. Strebte sie eine Rückführung an oder wollte sie sein Aufwachsen in unserer Familie begleiten? Das Gespräch verlief in ruhiger Atmosphäre und der Beraterin gelang es auch schwierige, schmerzhafte Themen anzusprechen. Nein, sie konnte ihn nicht bei sich aufnehmen. Die Folgen jahrelanger Alkoholsucht hatten ihre Spuren hinterlassen und sie war froh, ihr Leben wieder im Griff zu haben. Wir einigten uns auf Besuchskontakte einmal im Monat. Ich war zufrieden, diese Klärung herbeigeführt zu haben.
Transparenz und Offenheit auch bei kritischen Fragen ist unabdingbar in der Pflegekinderhilfe. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür sind Sozialarbeiter mit Kompetenz in der Gesprächsführung.
Aufgrund der Auswirkungen der Alkoholschädigung besuchte Peter seit der ersten Klasse eine Förderschule. Mutter und Oma zweifelten an der schulischen Laufbahn. Würde das Kind in der Pflegefamilie ausreichend gefördert? Sie informierten sich und sprachen mit Heimeinrichtungen. Am Ende eines Besuchstages präsentierten sie mir ihren Plan. Bei einer exzellenten Betreuung im Heim mit vielen Sportmöglichkeiten wären höhere Schulabschlüsse möglich. Die Heimaufnahme sollte schnell, noch vor dem 12. Lebensjahr sein, um die erwünschte Wirkung zu erzielen. Es sei auch schon ein Termin vereinbart, bei dem man Heim und Pädagogen kennenlernen könne. Sie verabschiedeten sich – und ich war in Panik.
Von vielen anderen Fällen war mir bekannt, dass es auch noch Rückführungen bzw. Umplatzierungen nach vielen Jahren geben kann. Am Montagmorgen war ich um 8 Uhr im Jugendamt. Die Sozialarbeiterin war über die Pläne bereits informiert und reagierte ganz gelassen. Ich ärgerte mich, dass ich eine schlaflose Nacht verbrachte, Argumente und Handlungsstrategien gewälzt hatte und ich es scheinbar als letzte erfuhr. Vom Jugendamt wurde ein gemeinsamer Gesprächstermin mit Herkunftsfamilie, Pflegefamilie und Jugendamtsleitung vereinbart, an dem auch das Pflegekind befragt werden sollte. Wir waren sehr aufgeregt vor dem Termin. Peter sollte seiner Mutter sagen, dass er nicht ins Heim sondern bei seiner Pflegefamilie bleiben möchte. Es fiel ihm schwer, er schaffte es aber doch seine Mutter zu überzeugen. Das Jugendamt sah auch keinen Anlass zur Veränderung. So blieb alles beim Alten, wir waren froh, aber Peters Oma vergaß den Misserfolg nicht.
Verunsicherungen von Pflegeverhältnissen sind zu vermeiden. Kontinuität und Verlässlichkeit sind eine notwendige Grundlage. Hierfür werden aktive Sozialarbeiter benötigt, die sich anbahnende Konflikte aufgreifen und Lösungen herbeiführen.
Als der Jugendliche seine Lehre als Kfz-Mechaniker begann, war es notwendig, einen BAföG-Antrag zu stellen. Das Jugendamt übersandte mir den Antrag für einige Ergänzungen. Sehr verwundert waren wir, als bei den Angaben zu den Eltern auch der Name seines Vaters angegeben war. Seit der Geburt hieß es, der Vater sei unbekannt. Wie war die Vaterschaftsfeststellung erfolgt? Hatte man ohne mein Wissen ärztliche Untersuchungen am Kind vorgenommen? Die Nachforschung ergab, dass die Gemeinde am Wohnort der Mutter weiterhin die Klärung der Vaterschaft verfolgt hatte und der Vater bereits vor Jahren die Vaterschaft anerkannte. Eine Mitteilung an das für mich und die Betreuung des Pflegekindes zuständige Jugendamt war nicht erfolgt, oder die Wichtigkeit der Nachricht nicht erkannt worden.
Für Peter wäre es wichtig gewesen möglichst früh zu wissen, dass es einen Vater gibt. Er wollte ihn gern kennenlernen. Die angegebene Anschrift war in einem ca. 60 km entfernten Ort. Wir planten dorthin zu fahren, um zu schauen, wie er wohnt und dann eine gute Möglichkeit für die Kontaktaufnahme zu überlegen. Noch ehe wir es in die Tat umsetzen konnten, erhielten wir einen Anruf. Die Dame stellte sich als Lebensgefährtin des Vaters vor und berichtete, dass der Vater vor kurzem verstorben sei und sie gerne seinen Sohn kennenlernen würde. Jetzt musste ich ihm die Nachricht überbringen. Gerade gefunden und gleich wieder verloren. Würde diese Geschichte im Spielfilm verwendet werden, würde man sie wahrscheinlich für kitschig halten. Die Erzählungen bei den Besuchen der Lebensgefährtin brachten ihm das Leben des Vaters ein bisschen näher. Die Beweggründe der Lebensgefährtin schienen eher darauf ausgerichtet zu sein, ein Stück vom Verstorbenen wiederzufinden. Warum sie sich nicht früher gemeldet hatten, bleibt im Dunkeln.
Jedes Kind hat das Recht auf seine Abstammung. Die Wahrnehmung der Rechte des Kindes ist Aufgabe des Jugendamtes.
Seine Ausbildung hat er erfolgreich in einem Autohaus abgeschlossen unterstützt von einer Sonderberufsschule, die den Stoff praxisorientiert in kleinen Klassen vermittelte. Seitdem ist er ein geschätzter Mitarbeiter auf dem Arbeitsmarkt. Gemeinsam mit seiner ersten Freundin bezog er nach der Volljährigkeit seine eigene Wohnung. Heute hat er eine Familie mit zwei Kindern und wir dürfen Oma, Tante und Onkel sein. In seiner Freizeit ist er aktives Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr. Man weiß nie, was noch kommt. Hoffen wir, dass alles gut weiter geht. In seiner Pflegefamilie ist er beheimatet. Wir waren nicht nur eine „Episode“ in seinem Lebensweg. Wir halten weiterhin zusammen und werden auch künftig die Unwägbarkeiten gemeinsam meistern.
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