Erfahrungsberichte

Die Suche nach meiner Herkunft: Erfahrungsbericht einer erwachsenen Adoptierten

Adoptiert sein – schon immer gewusst

Mit dem Wissen adoptiert zu sein, bin ich aufgewachsen. Meine Eltern (mit „Eltern“ sind immer meine Adoptiveltern gemeint, sie sind meine Eltern)  haben es mir irgendwann als Kind mitgeteilt, daran habe ich keine Erinnerung mehr. „Die Frau, die mich geboren“ hat, spielte bewusst keine bedeutende Rolle; unbewusst sicherlich schon. Meine Eltern hatten einige Adoptionsunterlagen zu Hause, die ich mir auch irgendwann anschaute und so den Namen meiner leiblichen Mutter kannte und auch wusste, dass mein leiblicher Vater aus einem nordafrikanischen Land kommt. Außerdem hatte ich einen anderen Vornamen, den meine leiblichen Eltern mir gaben. Dies waren die einzigen Informationen zu meiner Herkunft, bis ich mit meiner Suche begann.

Ich wurde direkt nach der Geburt Mitte der 1980er Jahre zur Adoption frei gegeben (Inkognito-Adoption) und war in der achtwöchigen Übergangszeit bei einer Kurzzeitpflege. Danach kam ich direkt zu meinen Eltern. Nach ein paar Jahren bekam ich zwei Schwestern, die als Pflegekinder kamen und ebenfalls nicht miteinander verwandt sind. So bin ich mit zwei jüngeren Schwestern, meinen Eltern und Haustieren aufgewachsen. Ich hatte die beste Kindheit, die ich mir hätte wünschen können.

Erst in der Pubertät, zusammen mit meiner damaligen, ebenfalls adoptierten besten Freundin, fing ich an mich bewusster mit meiner Herkunft zu beschäftigen. Wir gaben den Namen meiner leiblichen Mutter in Online-Suchmaschinen ein und schrieben in einem Forum und blätterten auch ganz klassisch im Telefonbuch. Diese Recherche war, rückblickend betrachtet, ein kleines Puzzleteil in meiner Identitätsfindung. Sie war vielleicht etwas aktionistisch, noch nicht „zu-Ende-gedacht“ und ich hatte mir auch keine Gedanken darüber gemacht, wie es dann weitergehen würde, sollte ich einen Kontakt herstellen. Gut 15 Jahre hatte ich mich mit meiner Adoption nicht bewusst auseinandergesetzt.

Die Suche nach den Wurzeln: Erste Schritte

Konkretere Schritte auf der Suche nach Antworten zu meiner Biografie unternahm ich Ende 2020. Fragen nach Zugehörigkeit, Identität, der Wunsch nach Antworten auf biografische Lücken wurden für mich mit Mitte 30 präsenter.

Eines Tages im November fasste ich den Entschluss und rief beim Pflege- und Adoptionskinderdienst des Jugendamtes meiner Geburtsstadt an, schilderte meine Situation, gab die Informationen weiter, die ich bis dahin hatte und teilte mit, dass ich auf der Suche nach meinen leiblichen Eltern bin. Ich habe Vertrauen in die Dokumentation bei Ämtern und ging deswegen den offiziellen Weg. Die zuständige Mitarbeiterin war sehr freundlich und verständnisvoll, notierte mein Anliegen und versicherte mir, dass sie sich bei mir melden würde. Ich musste nicht lange warten, bis sie mir mitteilte, dass sie meine Akte aus dem Archiv geholt habe und ich diese gerne einsehen könne. In einem weiteren Telefonat teilte sie mir bereits mit, dass ich einen leiblichen Bruder habe, der auch zur Adoption freigegeben wurde. Am letzten Tag vor einem erneuten Corona-Lockdown bin ich in meine Heimatstadt gefahren und bekam Akteneinsicht. Meine Eltern waren über meine Suche informiert und befürworteten diese auch, was für mich sehr hilfreich und unterstützend war.

Die Situation im Jugendamt ist mir sehr präsent in Erinnerung geblieben: An einem Besprechungstisch im Büro der Jugendamtsmitarbeiterin, abgetrennt durch eine Plexiglasscheibe, habe ich meine Akte zu lesen bekommen. Ich war ausgestattet mit Post-its, um die Seiten zu markieren, von denen ich eine Kopie haben wollte. Sehr schnell habe ich diese beiseitegelegt, weil ich gerne alles kopiert haben wollte (was bis auf wenige Ausnahmen zu finanziellen und datenschutzrechtlichen Informationen auch möglich war).

Meine Akte: Überraschende Antworten auf meine Fragen

Ich hatte also meine Akte vor mir liegen, die mir Informationen über meine Herkunft geben sollte. Ein sehr besonderer Moment, der auf der Gefühlsebene noch nie dagewesen ist.

Und Antworten gab mir meine Akte, mit gleich zwei Überraschungen: Ich erfuhr, dass mein älterer leiblicher Bruder, der ebenfalls zur Adoption freigegeben wurde, keine 12 Monate älter ist als ich. Das heißt konkret: Nur wenige Monate, nachdem meine leibliche Mutter ihn zur Adoption freigegeben hatte, wurde sie mit mir schwanger. Die zweite Überraschung war, dass meine leiblichen Eltern mich gewissermaßen gemeinsam zur Adoption freigegeben haben.

Es gab nicht nur eine dokumentierte Vaterschaftsanerkennung, sondern ich erfuhr von der Mitarbeiterin des Jugendamtes, dass meine leiblichen Eltern zum Zeitpunkt meiner Geburt sowie zum aktuellen Zeitpunkt beide dieselbe Meldeadresse hatten. Sie sagte mir, es sei sehr ungewöhnlich, eine Vaterschaftsanerkennung zu haben und war selbst überrascht, dass beide offensichtlich als Paar zusammenlebten und -leben. Diese Informationen mussten erst einmal bei mir ankommen. Ich habe die aktuelle Meldeadresse meiner leiblichen Eltern erhalten, die von meinem leiblichen Bruder aus datenschutzrechtlichen Gründen jedoch nicht. Für die einfühlsame und verständnisvolle Art der Mitarbeiterin des Jugendamtes bin ich sehr dankbar. Ich war überfordert mit so vielen neuen Informationen, sie aber hat mir aufgezeigt, welche weiteren Schritte ich gehen kann und bot ihre Bereitschaft zur Begleitung an.

Direkt im Anschluss an den Termin im Jugendamt bin ich zusammen mit meinem Partner zur aktuellen Meldeadresse meiner leiblichen Eltern gefahren. Ich selbst bin im Auto geblieben und habe ihn gebeten, zur Tür des Mehrfamilienhauses zu gehen. Dort standen ihr und sein Nachname am Briefkasten und Klingelschild.

Zurück in meinem Wohnort, der in einem anderen Bundesland liegt als meine Geburtsstadt und der Wohnort meiner Eltern und meiner leiblichen Eltern, entschied ich mich einige Tage nach der Akteneinsicht dazu, zunächst über das Jugendamt Kontakt zu meinem leiblichen Bruder aufzunehmen und erst einmal nicht zu meinen leiblichen Eltern. Die Mitarbeiterin des Jugendamtes berichtete aus ihrer Erfahrung, dass die Kontaktaufnahme zu Geschwistern auch meist „einfacher“ sei als zu leiblichen Eltern. Meine größte Sorge war nur, dass er womöglich nicht weiß, dass er adoptiert ist. Glücklicherweise war dies nicht so. Mein leiblicher Bruder erhielt eine Einladung vom Jugendamt und erfuhr, dass ich nach ihm suchte. Ich hatte zuvor mein Einverständnis zur Weitergabe meiner Kontaktdaten gegeben, sodass wir Anfang 2021 das erste Mal miteinander telefonierten und sofort einen „Draht zueinander“ hatten. Wir beschlossen, dass wir uns ganz bald persönlich treffen wollten, und keine zwei Wochen später besuchte ich ihn zum ersten Mal. Er wohnt noch in meiner Geburtsstadt, nur ca. 10 Minuten von unseren leiblichen Eltern entfernt.

Großer Bruder

Unser erstes Treffen war emotional sehr ergreifend für uns, wir spürten beide eine Verbindung, die mit Worten nicht beschrieben werden kann. Mittlerweile hatte auch mein Bruder seine Akte vom Jugendamt erhalten und so erhielt ich auch noch weitere Informationen über unsere leibliche Mutter. Unter anderem erfuhr ich, dass sie zum Zeitpunkt seiner Adoption bei einem Träger einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeitete. Bei meinem Bruder gab es keine Vaterschaftsanerkennung, aber alles deutete darauf hin, dass wir denselben leiblichen Vater haben.

Mein Bruder und ich trafen uns so oft wie möglich, lernten einander näher kennen und haben bis heute eine ganz wunderbare, besondere geschwisterliche Verbindung. Auch wenn wir nicht miteinander aufgewachsen sind, gibt es so viele verbindende Erfahrungen und Einstellungen. Mit meinem Bruder sprach ich viel darüber, ob wir auch unsere leiblichen Eltern kennenlernen möchten; über mögliche Reaktionen, mögliche Enttäuschungen, mögliche weiter unbeantwortet bleibende Fragen. Schließlich entschieden wir uns, den Kontaktversuch zu wagen und wandten uns wieder an das zuständige Jugendamt, weil wir ein potenzielles Treffen gerne auf neutralem Boden und mit professioneller Begleitung stattfinden lassen wollten. Auch hier war das Jugendamt überaus hilfsbereit und nahm zunächst schriftlich Kontakt zu unseren leiblichen Eltern auf. Wir wurden auf dem Laufenden gehalten, wann der Brief verschickt wurde. Nach wenigen Tagen rief mich die Mitarbeiterin des Jugendamtes an und erzählte mir, dass unser leiblicher Vater unangekündigt bei ihr erschienen sei und unbedingt und sofort Kontakt zu uns haben wollte, er sei sehr emotional gewesen. Sie informierte mich auch, dass es noch einen weiteren, ca. 15 Jahre jüngeren Bruder gibt, der bei meinen leiblichen Eltern aufgewachsen ist.

Erstes Treffen mit den leiblichen Eltern

Mithilfe der Koordination durch die Mitarbeiterin des Jugendamtes kam es schließlich zu einem ersten Treffen in den Räumlichkeiten des Jugendamtes. Mein Bruder und ich waren ca. eine halbe Stunde früher mit der Mitarbeiterin verabredet, um eine zufällige Begegnung auf dem Flur zu vermeiden. Zuvor hatten wir auch darüber gesprochen, welche Fragen wir stellen möchten und wie wir nach dem „Warum?“ fragen können. Die Erfahrung und Empathie der Mitarbeiterin des Jugendamtes gab uns ein großes Gefühl der Sicherheit.

Der Moment, als beide zur Tür hereinkamen, ist unvergleichlich und unvergesslich. Da kommen zwei Menschen in einen Raum, die mir fremd sind und zugleich ein Teil von mir und ich ein Teil von ihnen. Verbunden. Getrennt. Frei gegeben. Weggegeben. Wieder verbunden?

Mein erster Blick ging zu meiner leiblichen Mutter und ich wollte so sehr eine physische Ähnlichkeit sehen – doch die gibt es nicht. Kein „wie-aus-dem-Gesicht-geschnitten“. Dafür gibt es optische Parallelen zu meinem leiblichen Vater. Er war sehr ergriffen, Tränen liefen über sein Gesicht und es fielen im Verlauf des Gesprächs die Worte „es tut mir leid“. Meine leibliche Mutter wirkte nervös, zeigte kaum Emotionen, was gar nicht wertend gemeint ist. Sicherlich war die Situation aus ihrer Perspektive nicht einfach.

So saßen unsere leiblichen Eltern meinem Bruder und mir gegenüber, dazwischen die Mitarbeiterin des Jugendamtes, die das Gespräch sehr gut moderierte. Mein Bruder und ich erzählten von uns, unsere leiblichen Eltern von sich. Es wurde auch gelacht. Wir fragten, wie es dazu gekommen ist, dass sie uns zur Adoption freigegeben haben. Zusammengefasst kann ich sagen, dass es die schwierigen sozioökonomischen Umstände waren. Meine leibliche Mutter ist kognitiv eingeschränkt und ist weiterhin in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung tätig. Sie hatte keinen familiären Rückhalt, ihre Eltern waren alkoholsüchtig, sie war zeitweise im Heim. Mein leiblicher Vater war ungelernter Gastarbeiter, hatte schon einen ersten Sohn (mein weiterer, älterer Halbbruder!), für den er aufkommen musste.

Der Kontakt besteht seit dem ersten Treffen mit meinen leiblichen Eltern weiter fort und es gibt sporadische Treffen. Eine Verbindung zu ihnen spüre ich nicht.

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